Feigheit vor dem Volk
Warum sickert in einer Kaffeemaschine das Wasser durch das ganze Kaffeepulver, anstatt bloß nach unten zu tröpfeln? Das Phänomen heißt Perkolation – auf Englisch nennt sich auch die Kaffeemaschine percolator. Generell beschreibt die Perkolationstheorie, wie in einem gegebenen System Punkte, die voneinander getrennt sind, sich in zufallsbedingten Zusammenhängen untereinander verbinden, welche sich wiederum mit anderen Zusammenhängen vernetzen. Zieht sich der Prozeß weiter durch, dann wird eine „Perkolationsschwelle“ erreicht: Das System kippt von seinem ursprünglichen Zustand in einen neuen Zustand um (zum Beispiel wird der Kaffeesatz komplett durchnäßt). Der belgische Anthropologe Paul Jorion meint: „Mit der Perkolation entstehen unzählige Wege, die ohne Unterbrechung durch das gesamte System führen und zwar ganz gleich, wo der Eingangspunkt lag.“ Darum ist Perkolation, wenn nicht ein Modell, dann zumindest eine geeignete Metapher, um die Dynamik sozialer Bewegungen zu beschreiben. Sie ist auf jeden Fall passender als das Bild des „Virus“, das – immer, wenn sich ein Aufstand ausbreitet – von einfallslosen Journalisten bemüht wird.
’’Wir sind alle vereinzelte Punkte im System. Jeder mag sich über dies und jenes empören, jeder mag sich wünschen, daß sich endlich etwas dagegen tut, doch solange Gefühle und Wünsche nicht kommuniziert werden, bleibt die Ohnmacht intakt und mithin das System.’’
Zwar formieren sich immer wieder politische Zusammenhänge und Protestcluster, doch meistens stoßen sie schnell an unüberbrückbare Grenzen. Das besetzte Feld wird von den Nachbarfeldern ignoriert. Doch ab und an findet das perkolative Moment statt. In letzter Zeit wurde das Phänomen u. a. in Tunesien, Ägypten, Spanien, Brasilien und der Türkei beobachtet. Tausende versammeln sich an einem Ort, und plötzlich sind es Zehntausende, die sich mit weiteren Zehntausenden verbinden, bis das ganze Gesellschaftsgewebe von zahllosen Kommunikationswegen durchdrungen.
ist. Die Summe der privaten Empörungen wird zu öffentlicher Rebellion, die individuelle Ohnmacht zur kollektiven Macht, die Angst verflüchtigt sich und das System kippt um, zumindest für einen kurzen Augenblick. Eine solche Ausbreitung erfolgt so rasch und unvermittelt, daß sie den Teilnehmern wie ein Wunder erscheint. Niemand hätte sie für möglich gehalten, niemand kann wirklich erklären, wie sie zustande kam. Es gibt einen logisch-negativen Grund, weshalb die soziale Perkolation unvorhersehbar ist. Wäre es möglich, sie zu prognostizieren, dann könnten es auch Regierung und Polizei tun, also würden sie rechtzeitig handeln können, um sie zu verhindern. Die Vorhersagbarkeit des Ereignisses würde es zum Nicht-Ereignis machen. Ein weiterer Grund ist die topologische Unbestimmbarkeit. Der Eingangspunkt ist gleichgültig, Auslöser der Revolte kann alles sein, in Sao Paulo eine Fahrpreiserhöhung oder in Istanbul ein Bauvorhaben. Tagtäglich werden Preiserhöhungen und Bauprojekte beschlossen, ohne auf Widerstand zu treffen. Stillschweigend geduldet werden ja gar viel gravierendere Eingriffe in die Freiheit und den Wohlstand. Menschen nehmen zur Kenntnis, daß sie von Banken enteignet und von Geheimdiensten überwacht werden und gehen nicht deswegen auf die Straße. Dann aber reicht ein relativ harmloser Zwischenfall, und hoch gehen die Barrikaden. Warum passiert es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Weil vielfältige, heterogene Faktoren zufällig aufeinander getroffen sind. Die günstige Wetterlage mag ebenso dazu gehören wie im richtigen Augenblick die inspirierte Wortmeldung eines Einzelnen. Daher kann keine Strategie diesen Prozeß steuern, Theorien gehören allenfalls zu den vielen Zufallsbedingungen.
Ist die Perkolation einmal im Gang, gibt es erprobte Gegenmaßnahmen, um sie zu stoppen. Gewöhnlich erfolgen diese in drei Stufen. Zunächst werden die Kommunikationswege physisch gesperrt. Die Gefahrenzone wird von einem Sicherheitsgürtel umzingelt. Das ist die Aufgabe der Polizei. Zweitens wird der entstehende Prozeß argumentativ ausgesondert. Über die besonderen Probleme der protestierenden Gruppe wird ausführlich diskutiert, um besser über die allgemeinen Gründe zu schweigen, die zu einer Ausbreitung führen könnten. Das ist die Aufgabe der Medien. Schließlich werden die horizontalen Kommunikationswege nach oben umgeleitet, einseitig auf die Regierung gerichtet. So entsteht ein Trichtereffekt: Mit der Regierung kann nicht jeder sprechen, also wird die Kommunikation an Experten delegiert, weil diese mit Vertretern der Macht eine gemeinsame Sprache teilen, die die meisten Menschen kaum beherrschen.
Dabei wären wir bei der alten Frage der Verbindung zwischen dem Intellektuellen und dem Volk. Laut Sartres Definition ist ein Intellektueller jemand, der sich um Sachen kümmert, die ihn nichts angehen. Die Frage ist aber, wie er das tut. In den letzten Jahrzehnten ist die Figur des engagierten Intellektuellen so gut wie verschwunden. Das zeigt die Verwandlung des Populismusbegriffs besonders deutlich. Populisten, das waren im 19. Jahrhundert Sprößlinge der Elite, die Studium und Karriere hinschmissen, um mit den Bauern zu leben und zu agitieren. Das taten sie zum Teil aus Selbsterlösungsgedanken, doch vor allem aus der einfachen Überlegung: Wer sich für das Gemeinwohl engagieren will, muß die Massen auf seiner Seite haben. In den USA und Russland war der Populismus eine wichtige, erfolgreiche Bewegung. Als letzte Populisten können wir hierzulande jene maoistischen Studenten werten, die in den 1970er Jahren zu Fabrikarbeitern wurden. So verschroben ihre Ideologie war, da zumindest waren sie konsequent. Doch ist heute Populismus ein Schimpfwort geworden. Als Populist gilt jeder, der sich an die einfachen Menschen in deren Sprache wendet.
Allein von „einfachen Menschen“ zu sprechen, ist höchst verdächtig. Besonders in Deutschland gelten die unteren Schichten als stumpfsinnig, unartikuliert und tendenziell völkisch. Wenn sie wider Erwarten einen Protest wagen, findet sich immer ein linker Schlaumeier, um ihnen „verkürzte Kapitalismuskritik“, „Neid“ wenn nicht „antisemitische Untertöne“ vorzuwerfen. Das mag wohl sein, aber die Menge, die 1789 die Bastille stürmte, bestand auch nicht aus feinsinnigen Aufklärern. Wie Hegel meinte, das Bewußtsein ist wie die Eule der Minerva, sie fliegt erst in der Dämmerung aus (und oft genug ist es dann zu spät). Man hätte glauben können, daß es gerade die Aufgabe der Intellektuellen sei, sich unter die Menge zu mischen, um zu versuchen, gemeinsam Gedanken zu klären. Aber das wäre ja populistisch.
Zugegeben, Verdacht ist nicht fehl am Platz. Der Rekurs zum „Volk“ ist vielmals ein Instrument von Gleichschaltung und Diktatur gewesen. Andererseits ist der Volksbegriff für die politische Theorie unverzichtbar. Wen sonst vertreten die Vertreter? Von wem geht die Souveränität aus? Vor allem aber: Ist einmal das gemeine Volk weggezaubert, welches Subjekt bleibt denn gegenüber der Elite übrig? Wahrscheinlich ist das die sonderbarste Errungenschaft der Gegenwart: Die meisten Menschen sind unsichtbar gemacht worden. Sie kommen in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr vor. Allein durch die Statistik erfahren wir, daß in Deutschland immer mehr Bürger am Rand des Existenzminimums leben. Doch eine wahrnehmbare, soziale Präsenz haben sie nicht. Sie sind weg vom Bildschirm. Eine räumliche Entsprechung ist das gentrifizierte Stadtzentrum, das einem den Eindruck vermittelt, die Bevölkerung ernähre sich nur noch von Kunstprojekten, Design und Apps.
Es gibt Gegenentwürfe. Brechts Ratschlag folgend, hat der Philosoph Antonio Negri das Volk aufgelöst, ein neues gewählt und es Multitude genannt. Auf den ersten Blick sieht die Multitude vorteilhafter aus, sie ist keine graue Masse mehr, sondern eine bunte Ansammlung von „Singularitäten“. Doch verbirgt diese scheinbare Vielfalt eine bedenkliche Homogenität. Zur Multitude zählen nicht etwa der zur Ausländerfeindlichkeit neigende Bauarbeiter oder die katholische Gegnerin der Schwulenehe. Voraussetzung um dazuzugehören ist schon eine vage Grundgesinnung. Auch die verdrossene Supermarktkassiererin mit Grundschulabschluß wird sich schwer mit dem Jargon des „kognitiven Proletariats“ anfreunden können. Die linksakademische Sprache will nicht verbinden, sondern absondern. So bleibt man schließlich unter sich. Neuerdings wird jener Bruchteil der Bevölkerung, der zur Sichtbarkeit offiziell zugelassen wird, „Generation Y“ genannt. Es sind gut ausgebildete, technologieaffine, optimistische und selbstbewußte Menschen unter 35. Glaubt man Wikipedia, ist das Musterbeispiel ihrer Organisationsform die Bewegung Occupy Wall Street (OWS). Wen wundert’s? Laut Publizist Thomas Frank war OWS „das meist beschriebene und überschätzte Ereignis aller Zeiten“. Bereits der Name täuscht: Nicht die Wall Street wurde besetzt, sondern ein Park nebenan – keine Banken, sondern Parkbänke. Das ist nicht weiter schlimm, bloß soll klargestellt werden, daß man sich im symbolischen Bereich bewegte. Auch das Ausmaß der Bewegung wurde massiv überschätzt. So werbetechnisch perfekt der von Antiwerbungsaktivisten lancierte Slogan „Wir sind die 99 %!“ auch war, schließlich waren ein paar tausend Teilnehmer dabei, und das in einer 8-Millionen-Stadt. Zu diesem Zeitpunkt war in der gesamten US-Bevölkerung die Empörung gegen das Finanzsystem riesig, entsprechend auch die anfängliche Sympathie für OWS. Und doch waren die Camper fast ausschließlich Studenten, Akademiker, Künstler und Netzaktivisten. Sie haben zusammen gekocht, getrommelt, geschlafen, Internetbotschaften in die Welt geschickt, tagelang antihierarchisch palavert und eine Menge Spaß gehabt. Da sie keine Forderung hatten, konnten sie nicht enttäuscht werden, als nach acht Wochen der Karneval zu Ende ging, ohne die soziale Lage im geringsten verändert zu haben. Weiterhin wurden arme Schlucker aus ihren Häusern rausgeschmissen, verloren ihren Job, rangen mit Überschuldung. Den Bankern geht es nach wie vor prächtig.
Selbstverständlich war es richtig, etwas unternehmen zu wollen, und niemandem darf das Scheitern vorgeworfen werden. Bedenklich wird es aber, wenn das Scheitern hinterher als Riesenerfolg gefeiert wird, ja als Beginn einer neuen Revolution. Der Zuccotti-Park wurde dem Tahrir-Platz gleichgestellt, aber in Ägypten fand tatsächlich ein perkolativer Volksaufstand statt, deswegen war dieser auch widersprüchlich, konfliktreich, in einem Wort: unrein. Stattdessen verlief die „gegenseitige Anteilnahme“ im OWS-Themenpark reibungslos, weil in geschlossenem Kreislauf, von der Außenwelt durch die Firewall des akademischen Kauderwelschs geschützt. So unergründlich die Wege der Perkolation auch sind, wir können getrost davon ausgehen, daß ein Aufstand in Lebensgröße, sollte er doch noch kommen, ganz anders aussehen wird.
Guillaume Paoli
Komplette Ausgabe 01/2015